Interprofessioneller Gesundheitskongress 8. und 9. April 2016, Dresden

Interprofessioneller Gesundheitskongress 8. und 9. April 2016, Dresden

Die Expertengruppe Kompressionstherapie des Medical Data Institutes stellte mit mehreren Vorträgen im Rahmen einer hochkarätig besetzten Sitzung die aktuellen Entwicklungen in der Kompressionstherapie vor.

Foto (v.l.n.r.): Prof. Dr. Joachim Dissemond, PD Dr. Stefani Reich-Schupke, Kerstin Protz, Prof. Dr. Volker Großkopf, Josef Hug, Dr. Karl-Christian Münter, Prof. Dr. Knut Kröger

Am 8. und 9. April fand zum vierten Mal der Interprofessionelle Gesundheitskongress des Springer Medizinverlages in Dresden statt. Unter dem Motto „Viele Professionen – ein Patient“ fanden sich Interessierte aus Pflege, Medizin, Therapie und Wissenschaft zusammen, um sich über aktuelle Methoden und neue Entwicklungen zu informieren und Erfahrungen auszutauschen. Die Expertengruppe „Kompressionstherapie“ des Starnberger Medical Data Institute (MDI) stellte mit mehreren Vorträgen im Rahmen einer hochkarätig besetzten Sitzung unter Moderation des Kölner Juristen Prof. Dr. Volker Großkopf, die aktuellen Entwicklungen in der Kompressionstherapie vor.

Als Ressortleiter der Expertengruppe „Kompressionstherapie“ des MDI eröffnete Prof. Dr. Dissemond die Sitzung mit einem Beitrag über die Historie dieser Therapieform und beleuchtete deren Facetten. Der kraftsteigernde Effekt der Komprimierung der Körperglieder sei bereits in der Vorzeit bekannt gewesen. Die Ärzte der Antike verfassten erste Beschreibungen des therapeutischen Einsatzes, so der Essener Dermatologe. Die Prinzipien des römischen Arztes Galen, dass ein Verband Schmerzen vermeiden, schnell anzulegen sein und gut sitzen solle, gelten heute noch. Das Wissen zur Kompressionstherapie führt über die mittelalterliche Versorgung mit Bleiplatten, neuzeitliche Waden-Klebeverbände und das Abbinden mit Schnüren schließlich zur Kompressionstherapie, wie wir sie heute kennen: dem phlebologischen Kompressionsverband mit elastischen Kurzzugbinden. Die Pioniere der Kompressionstherapie Fischer, Pütter und Sigg, gaben hierbei den verschiedenen Anlagetechniken ihre Namen. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte die Entwicklung der Kompressionsbestrumpfung ein, die über schnürbare Manschetten aus Hundeleder oder Holz zur aktuellen, umfangreichen Palette aus Mustern und Farben führte, die dem Patienten heutzutage im Rahmen der Kompressionstherapie zur Verfügung stehen. Eine weitere, aktuelle Option stellt die Versorgung mit adaptiven Kompressionsbandagen bzw. Klettbandagen dar, die eine einfache Justierung des Kompressionsdrucks ermöglichen. Solche Wrap-Verbände sind relativ einfach vom Betroffenen oder Angehörigen selbst anzulegen. Anhand seiner anschaulichen Darstellung der Geschichte der Kompressionsversorgung verdeutlichte Dissemond, dass heutzutage moderne Produkte und Methoden zur Verfügung stehen, die es dem Therapeuten ermöglichen, jedem Patienten eine individualisierte Therapieoption zu eröffnen. 

Auch wenn die Entwicklung der Kompressionstherapie vorangeschritten ist, gilt es doch weiterhin, überkommene Dogmen zu hinterfragen, so ergänzte PD Dr. Stefanie Reich-Schupke anschließend. Kompressionstherapie gelte beispielsweise bei Patienten mit einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit als kontraindiziert, kann aber, so die  Bochumer Dermatologin, bei einem Knöchelarteriendruck von mindestens 60 mmHg mit geringen Druckwerten (z. B. Kompressionsklasse I) durchaus angebracht sein. Auch die gängige Überzeugung, das Bein bei bestehendem Ulcus ausschließlich mit Kompressionsverbänden zu versorgen, sei angesichts der speziell dafür ausgelegten Ulcus-Strümpfe zu hinterfragen. Fest steht aber, dass ein Bein bandagiert werden sollte, bis es entstaut ist. Erst dann erfolgt die Weiterversorgung mit medizinischen Kompressionsstrümpfen. Für die Kompressionsversorgung gilt, dass der jeweilige Verband ein herzwärtiges Druckgefälle erzeugen soll, das heißt, der Druck ist in der Knöchelregion am stärksten und nimmt dann über die Wade bis zum Knie ab. Eine aktuelle Studie, die derzeit kontrovers diskutiert wird, greift dieses Dogma an, denn es konnte aufgezeigt werden, das ein herzwärts zunehmender Druck die venöse Abpumpleistung steigert. Eine weitere verbreitete Ansicht sei, so Reich-Schupke, dass Kompressionstherapie erst mit einem Druckwert von 23 mmHg wirksam wird. Inzwischen sei aber erwiesen, dass auch geringere Anpressdrücke von 10-20 mmHg Wirkung zeigen können, beispielsweise bei Schwangeren, in stehenden Berufen und während Flugreisen. Das Dogma, „je mehr Druck, desto besser“, sei dementsprechend ebenfalls zu hinterfragen, so Reich-Schupke. Kompressionsversorgungen mit geringen Druckwerten, die von Patienten besser toleriert werden, sollten als Therapieoption häufiger in Betracht gezogen werden. Es gelte dennoch generell die aktuellen Kenntnisse kompetent umzusetzen, dabei aber stets neue Entwicklungen im Blick zu haben.

Die Evidenzbasierte Medizin (EBM), über deren Methodik und Auswirkung Prof. Dr. Knut Kröger im Anschluss berichtete, ist eine Entwicklung, die sich in den letzten Jahrzehnten etabliert und seit 2000 auch im Sozialgesetzbuch Niederschlag gefunden hat. Der Begriff der EBM, die Heilkunde, die sich auf Beweismaterial stützt, sei in den 1990ern von Epidemiologen geprägt worden und habe inzwischen einen unbestreitbaren Stellenwert erobert, so der Krefelder Angiologe. Sie stütze sich bei der Empfehlung bestimmter Therapien von Krankheitsbildern auf die Daten und die Ergebnisse möglichst vieler großer Studien und werde daher manchmal als „Kochbuchmedizin“ kritisiert. Nach Ansicht ihrer Kritiker sei die EBM, je mehr Studien in eine Auswertung einbezogen werden, umso weniger für die individuelle Therapie des einzelnen Patienten zu gebrauchen. Je mehr Patienten eine  Studie einschließt, umso weniger hat der Durchschnittspatient etwas mit dem Betroffenen zu tun, der dem Therapeuten gegenübersteht. Der Vizepräsident der Fachgesellschaft der renommierten  Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) regte bereits 2005 eine Entideologisierung des EBM an. Auch heute noch werden solche und ähnliche kritische Forderungen aus Medizinerkreisen erhoben. Beispielhaft stellte Kröger anschließend einige Studien vor, anhand derer er jeweils kritikwürdige Ansätze verdeutlichte und betonte in der Folge die Wertigkeit der eigenen Erfahrung und des oft zitierten Expertenkonsens. Diese geben dem Therapeuten eine Handhabe bei der Einschätzung, wenn die Maßnahmen, die bei initialer Indikation angemessen seien, angesichts auftretender Komplikationen geändert oder ersetzt werden müssten. Die auf Expertenkonsesn gründenden Medizinische S3-Leitlinien beziehen daher, zusätzlich zu den Erkenntnissen der EBM, eigene Erfahrungen mit ein. Manchmal komme der Rückgriff auf die Evidenz daher, so Kröger abschließend, dass nichts Besseres zur Verfügung stehe. Zum Themenbereich der Kompressionstherapie fehle es insbesondere an großen und umfassenden Studien.

Den Kompetenzen der einzelnen Akteure der Versorgung widmete sich der Vortrag von Dr. Christian Münter. Auf die Anforderungen der Kompressionstherapie sind Klinik, Fachärzte, sowie spezialisierte ambulante und klinische Einrichtungen unterschiedlich vorbereitet. Klinische Notaufnahmen haben, nach Auskunft des Hamburger Allgemeinmediziners und Phlebologen, nicht oft mit Patienten zu tun, die eine Kompressionsversorgung erhalten. Sie verfügen somit selten über geschultes Personal und verwenden an Material, was gerade vorhandenen ist. Auf die Krankheitsbilder entsprechend eingestellte spezialisierte Einrichtungen, wie Wundsprechstunden oder Schwerpunktpraxen versorgen die Betroffenen üblicherweise durch entsprechend ausgebildetes Personal und bieten eine Versorgung nach den aktuellsten Standards und Leitlinien. Dabei stelle sich aber stets die Frage nach der Weiterversorgung und der Fortsetzung der begonnenen Therapie, wenn der Patient wieder nach Hause oder zurück in eine betreuende Einrichtung geht. Den ambulanten Versorgern obliege, so Münter, der Großteil der Therapie. Verordnungen müssen daher exakt und die verwendete Technik einheitlich sein. Auch wenn die mit den Möglichkeiten der Kompressionstherapie vertrauten Spezialisten - Phlebologen, Angiologen und Gefäßchirurgen - manchmal einen eingeschränkten Visus haben, wie Münter kritisch anmerkte, habe die Therapie durch spezialisierte Versorger viele Vorteile, so zum Beispiel hinsichtlich der Diagnostik und des adäquaten Materialeinsatzes. Mit einer Aufforderung, nicht den Blick „über den Tellerrand“ zu scheuen, stellte Münter einige Indikationen der Kompressionstherapie vor und betonte, dass es sich um eine Versorgung handele, die eine engmaschige Zusammenarbeit aller Beteiligten voraussetze.

Wie es um vorhandene Kompetenzen und Kenntnisse der Versorger in Deutschland bestellt ist, erläuterte Kerstin Protz im Anschluss. Anhand aktueller Studien zur tatsächlichen Versorgungssituation thematisierte die Projektmanagerin Wundforschung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zudem entsprechende Verbesserungsmöglichkeiten durch Schulung und Weiterbildung. Die aktuellen Erkenntnisse legten, so berichtete Protz, eine ungenügende Verbreitung des Wissens um Material und Methoden der Kompressionstherapie beim Ulcus cruris venosum nahe und offenbarten Defizite auf Seiten der Versorger hinsichtlich deren Anwendung. Nur knapp zehn Prozent der Versorger (51 von 551) erzielten laut Protz, mit einer Kompressionsbandagierung einen therapierelevanten Zielwert. Auf Seiten der Patienten bestünde zudem ein erheblicher Verbesserungsbedarf, der sich auf Informationen zur Wirkweise der Therapie und zum Umgang mit den eigenen Materialien bezieht. Protz forderte Pflegende und Therapeuten dazu auf, Möglichkeiten zur Schulung anzunehmen und gleichzeitig ihre Patienten besser aufzuklären. Hinsichtlich der erzeugenden Druckwerte der Kompressionstherapie gelte es, zum Beispiel mit Druckmessgeräten zu üben. Die Nutzung von Materialien, die eine Orientierung zur Druckbestimmung ermöglichen, wie Binden mit visuellen Markern oder die adaptive Klettbandage JuxtaCures® stellen nach Ansicht der Hamburger Krankenschwester und Fachautorin weitere Möglichkeiten dar. Als Lösungsansatz für die Defizite in dem Bereich Kompressionstherapie und die damit verbundenen Maßnahmen benannte Protz weiterführende Qualifizierungen und Schulungen, die sich nicht nur an Therapeuten und Pflegende, sondern auch an Patienten und ihre Angehörigen richten.

Der abschließende Vortrag des Pflegedirektors Josef Hug, fasste die Ergebnisse eines engagierten Projekts zusammen, das im Klinikum Karlsruhe im Jahr 2015 initiiert wurde: die Umstellung auf ein neues Produkt zur Thromboseprophylaxe soll das Klinikum zum „Thrombosefreien Krankenhaus“ machen. Nach der Maßgabe, die im Krankenhaus begonnene Therapie solle im ambulanten Bereich nahtlos fortgesetzt werden können, wird dabei, Hug zufolge, das Überleitungsmanagement in diese Maßnahmen mit eingebunden. Der erste Schritt zur Realisierung dieses ehrgeizigen Ziels war die Identifizierung von Stationen, die einen erhöhten Bedarf an Strümpfen zur Thromboseprophylaxe (MTPS) aufwiesen, sogenannte Hauptanwender. In einem internen Auswertungsprozess wurden dafür 19 Stationen zur Teilnahme an der Umstellung bestimmt. Vorausgegangen war die pflegefachliche Auswertung der vorhandenen Dokumentation. Zunächst wurde das Krankenhaus auf einheitliche MTPS umgestellt. Als nächster Schritt folgte eine Befragung von Patienten zum MTPS. Es wurde gleichermaßen die persönliche Erfahrung mit dem Produkt erfragt, als auch der Informationsstand zu dessen Anwendung und Wirkung. Beispielhafte Fragen lauteten: Wurden Sie über MTPS aufgeklärt, Durch wen, Wer tat das, Wurde Ihr Bein ausgemessen, Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Tragekomfort? Viele Befragte, insgesamt 73%, beschrieben ihre Thromboseprophylaxe als „bequem“. Den Abschluss bildete die Erfassung der Aktivitäten der Patienten. Im nächsten Schritt folgte die Befragung der eigenen Mitarbeiter. Von diesen schätzen die meisten den eigenen Informationsstand als ausreichend ein. Die Frage, ob das Bein des Patienten regelmäßig vermessen werde, beantworteten erstaunlich viele Kollegen bejahend, was der Aussage der Patientenbefragung zum selben Thema widersprach, wie Hug kritisch anmerkte. Die Patientenbefragung wird mit dem Ziel, bis Jahresende 150 Patienten einzubinden, fortgeführt. Das Klinikum Karlsruhe hat, nach Hugs Aussage, die Kompressionstherapie als Fokusthema definiert und strebt eine einheitliche Qualifizierung der Mitarbeiter an.

Auch auf dem Prüfstand erweist sich, so das Fazit der Sitzung des MDI, die Kompressionstherapie als eine hochwirksame und aktuelle Methode der Versorgung, deren Erfolg  auf auf den Möglichkeiten der Patienten, den Angaben der Verordner, der Qualität des Materials und den Fähigkeiten der Anwender basiert. Für eine flächendeckende und umfassende Versorgung der Betroffenen ist entscheidend, dass moderne Versorgungsformen und Materialien in der Versorgungsrealität ankommen und selbstverständlicher Bestandteil der alltäglichen Praxis werden.

Jan Hinnerk Timm, Hamburg

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